Geschichte


Lage

Dank ihrer exponierten Lage, am Rande eines zur Rur hin abfallenden Höhenzuges, beherrscht die im "Herbst des Mittelalters" (15. Jh.) gebaute spätgotische Backsteinkirche mit hohen Walmdächern und vorgesetztem älteren Westturm auch heute noch das Stadtzentrum. Die Kirche zeugt in Ausmaß und Gestalt von der frommen Begeisterung und dem Stolz Linnicher Bürger im Spätmittelalter. Der Landesherr Herzog Adolf VII. von Jülich-Berg hatte die Wiederherstellung der 1392 durch brabantische Truppen zerstörten alten Stadtbefestigung und den Neubau von Tortürmen fast beendet, als man 1453 den Grundstein für die neue spätgotische Hallenkirche legte. Im Zuge des Baufortschritts mußte ein an gleicher Stelle gelegenes romanisches Gotteshaus dem prächtigeren und größeren Neubau weichen.

Zu dieser Zeit stand - vermutlich an der Nordseite des Bauplatzes - schon das Kloster der Franziskanerinnen "Zum Jordan", das erstmals 1440 bezeugt ist. Es war ein Winkelbau, dessen längerer Schenkel auf der nördlichen Stadtmauer stand, während der Südtrakt unmittelbar an die Baulinie des kirchlichen Neubauprojektes heranstieß. Nach dessen Vollendung hatten die Nonnen einen direkten erdgeschossigen Zugang zur Kirche und der Südtrakt des Klosters unmittelbare Verbindung zur Nonnenempore im nördlichen Seitenschiff der Kirche. Nachdem im 17. Jh. der Klosterkomplex auf die Südseite des Kirchplatzes verlegt wurde, konnten die Nonnen ihre Empore in der Kirche über einen hölzernen Gang von ihrem neuen Kloster aus erreichen.

Die schweren Zerstörungen des letzten Krieges veranlaßten eine Veränderung auf dem Kirchplatz. Man hat versucht, die ursprüngliche städtebauliche Situation zu wahren. Beim Eingang an der Westseite des Kirchplatzes zeigen zwei wiederhergestellte bzw. neu gebaute Häuser, daß man auch die alten Volutengiebel des 17. Jh. beibehalten wollte. ... Beim südlichen Gebäude von 1728 mit schöner Rokokotür kann man an der Rückseite noch Reste des Kranzgesimses der alten Stadtmauer erkennen. Das Nachbarhaus mit überwiegend neuer Bausubstanz gehörte einst zum ehemaligen Kloster. ... Die Häuser befinden sich links bzw. rechts vom Eingang zur Ostpromenade.

Die Baugeschichte

Ein in alten Flurkarten mehrfach genannter "Heilig Pütz" (Taufquelle im Südwesten von Linnich) könnte ähnlich wie der "Willibrordus-Brunnen" im Linnicher Ortsteil Ederen von der Christianisierung durch den großen Friesenapostel im 7. Jh. zeugen.

Sicherer für frühes Christentum im Linnicher Land erscheint das Patrozinium des hl. Martinus der heutigen Kirche. Muß man doch annehmen, daß schon Ende des 8. Jh. auf dem merowingischen Königshof im Bereich des jetzigen Kirchplatzes eine grundherrliche Eigenkirche den gallofränkischen Nationalheiligen zum Patron hatte. Der "Villicus" des Königs ließ damals vermutlich eine Fachwerkkapelle auf Feldsteinunterbau für seine Bauern errichten. Vorher hatten sie sich wohl in einem privaten "conventiculum" zur Eucharistiefeier getroffen. Dieses Kirchlein wurde im hohen Mittelalter gewiß zu klein für den ganzen Fronhofverband. Deshalb baute man im 12./13. Jh. eine romanische Landkirche aus Rurkieseln und Feldsteinen. Dieses einschiffige Bauwerk mit Rechteckgrundriß, niedrigem, eingezogenem Chörchen mit Rundapsis und vorgesetztem Westturm entsprach der Traditionsbauweise frühromanischer Sakralbauten im Rheinland auf dem flachen Lande. Der eigentliche Kirchenraum mit Flachdecke nahm in Linnich die Grundfläche der heutigen gotischen Kirche zwischen den vier Mittelpfeilern ein. Die Apsis des romanischen Baus reichte fast zu einem Drittel in das jetzige Chorjoch hinein. Es ist zu vermuten, daß die romanischen Grundmauern zur Fundamentierung der gotischen Mittelschiffpfeiler benutzt wurden. Ein eindeutiger Grabungsbefund liegt bedauerlicherweise noch nicht vor. Der heute noch stehende romanische Westturm, in Rurkieseln mit unregelmäßiger Eckverquaderung gemauert, zeigte ursprünglich in seinen Obergeschossen nur schmale Lichtschlitze. Der wehrhafte Turm war vom Innern der Kirche her zugänglich und diente in Kriegsfällen auch als Schutzraum der Bürger. In die romanische Kirche gelangte man von der Südseite her. Die Nonnen hatten einen Zugang aus ihrem Kloster an der Nordseite, wo sie damals schon eine Empore besaßen.

In der Mitte des 15. Jh. begannen nach der Hubertusschlacht (1444) die Vorbereitungen für einen gotischen Neubau mit größeren Dimensionen. Zunächst trug man den romanischen Choranbau ab und ersetzte ihn durch die spätgotische Choranlage in östlicher Verlängerung. Gleichzeitig brach man in die Westseite des Turms das heutige Spitzbogenportal, um die Erdgeschoßhalle besser nutzen zu können. Das große Bauvorhaben wurde sehr gefördert durch den von Erzbischof Dietrich von Moers (1414-1463) verkündeten Ablaß von 1453. Es entstand eine dreischiffige Backsteinkirche mit Chor und 5/8-Schluß, dem als niedriger Anbau ein südliches Seitenchörchen, die heutige Sakristei, angefügt war. Über den Baukörper zimmerte man ein hohes Schieferdach, in das die Seitenschiff-Walmdächer der Nebenjoche senkrecht hineinstoßen. Den romanischen Westturm glich man in seiner Dachform den neuen Verhältnissen durch eine schlanke, gotische Pyramide an. Am 22. Juli 1481 wurde die neue Kirche von Weihbischof Arnold von Unkel, als Vertreter des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen (1480-1508), konsekriert. Rund 100 Jahre später fügte man in die Westjoche der beiden Seitenschiffe von Kreuzgewölben getragene Emporen ein. Im Laufe der Bauzeit und des folgenden 16. Jh. wetteiferten Edelfreie und Linnicher Bürger mit ihren Stiftungen zur Ausgestaltung der Kirche, an der Spitze der Herzog von Jülich als Patronatsherr des Gotteshauses. Das Patronatsrecht war auf ihn schon 1395 übergegangen. Vorher war die Kirche der Prümer Abtei inkorporiert. Diese erhielt die Einkünfte aus der Pfarrstelle und entsandte Patres für die Seelsorge. Bis zum Beginn des 18. Jh. behielt der Außenbau der Kirche seine ursprüngliche Gestalt. 1704 erweiterte man den gotischen Bau durch einen zweigeschossigen Anbau an der Südseite des Westturmes. Vier Jahrzehnte später (1747) bot ein Sturmschaden Veranlassung, den Turm um ein weiteres Obergeschoß in Backstein zu erhöhen. Dieses Obergeschoß war außen durch zweiteilige Fenster in großer Korbbogenblende gegliedert. Anstelle der zerstörten gotischen Dachpyramide ließ Baumeister Voigt(s) vom Niederrhein jetzt eine barocke Schweifhaube mit geschlossener Laterne und schlanker Spitze zimmern.
Der bauliche Zustand änderte sich im 19. und Anfang unseres Jahrhunderts kaum. Während des Zweiten Weltkrieges wurde dagegen die gesamte Bausubstanz zerrüttet oder zerstört. Die Turmhaube brannte gänzlich ab, die Dächer der Schiffe wurden abgedeckt oder erlitten Brandschäden. Das Mauerwerk der westlichen Obergeschoßhälfte des Turmes und die südliche Außenwand der Kirche wurden durch Sprengungen zerstört. Im Innern zeigten die Mittelpfeiler erhebliche Beschädigungen, sämtliche Gewölbefelder bis auf eins stürzten in die Tiefe, und alle Fenster verloren ihre Maßwerke und Vertikalrippen.

Zunächst galt es, zur Sicherung der Substanz Notdächer aufzubringen und die Fenster zu verbrettern. Die Bauleitung für die Wiederherstellung der Kirche nach denkmalpflegerischen Prinzipien übernahm Architekt W. Finkeldei (Linnich), von den Pfarrangehörigen tatkräftig unterstützt. Am 17./18. September 1955 konnte die Gemeinde ihre Pfarrkirche wieder beziehen. Die folgenden Jahrzehnte widmete man dem Einbau neuer Fenster und der Restaurierung der wertvollen Innenausstattung. Heute stellt sich das sakrale Baudenkmal wieder in der Form dar, die seine Erbauer ihm im 15./16. Jh. gegeben haben.

Quelle: "St. Martinus in Linnich" Seite 3, 5 und 6